RehaTreff-Testbericht: Die flüsterleise Wuchtbrumme

Unser Stricker Crossbike im Praxistest von Werner Pohl von RehaTreff, dem Magazin für Menschen mit Mobilitätseinschränkung.

Ausprobiert: Das Stricker Crossbike

Elektrische Zuggeräte für Rollstühle gibt es viele. Mit seinem neuen Crossbike bereichert Stricker dieses Marktsegment nun um eine Art Harley Davidson unter den Zuggeräten. Wir haben das Kraftpaket in Augenschein genommen.

Was ist besser als viel Drehmoment? Noch mehr Drehmoment! Die alte Motorradfahrerweisheit kam mir in den Sinn, als ich, vorsichtig am Gasgriff drehend, die erste Proberunde mit dem soeben angedockten Crossbike drehte. Dem war die Warnung des Stricker-Mitarbeiters vorausgegangen: „Pass auf, das Ding hat richtig Power.“ Das alles andere als filigrane Auftreten des Neulings im Stricker-Produktportfolio vermittelt diese Botschaft auch optisch. Üppig bereift und mit einem bulligen Nabenmotor bestückt, versehen mit klotzigen Zusatzgewichten auf Höhe der Radnabe und einem breiten Schutzblech über dem Antriebsrad hat das Crossbike durchaus etwas von einem Motorrad. Jedenfalls wirkt mein Rollstuhl in Kombination mit dem Vorspannteil geradezu zierlich. Später werde ich mir wünschen, ich verfügte über einen Satz Mountainbikereifen am Rollstuhl für die Ausritte ins Gelände.

Härtetest für den Rollstuhl

Aber zunächst einmal freue ich mich über die problemlose Verschwisterung von Stuhl und Zugmaschine. Das strickereigene Befestigungssystem mit den breiten Schraubklemmen ist unkompliziert in der Handhabung, rasch justiert und sorgt für einen soliden, wackelfreien Kraftschluss zwischen beiden Komponenten. Der ist auch nötig, denn das mit einem 1.500-, wahlweise 2.000-Watt-Motor ausgestattete Zuggerät setzt den Rollstuhl einer nicht unerheblichen Belastung aus. Einmal mehr bin ich deshalb froh über das ursolide Starrrahmenmodell, das mich durchs Leben begleitet. Ein Faltrollstuhl, das stelle ich rasch fest, käme mit diesem Trumm davor an seine Grenzen.

Grenzen auszutesten, dazu fordert das Crossbike förmlich heraus. Was schon bei der ersten Probefahrt in die nähere Umgebung – ein hügeliges Gelände, geprägt teils von perfekt asphaltierten Wirtschaftswegen, teils von Waldwegen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades – auffällt, ist der enorme Antritt, mit dem der Motor zu Werke geht. Ein minimaler Dreh am Gasgriff genügt und die Fuhre stürmt vorwärts. Bei welchem Tempo der Spaß endet, das nötigt dem Fahrer ein paar Überlegungen zum Thema Gesetzestreue ab. In Deutschland gilt: Bis sechs Stundenkilometer sind Zugmaschinen von der Versicherungspflicht befreit. Bis 15 Stundenkilometer benötigen sie eine Betriebserlaubnis und müssen mit einem Versicherungskennzeichen versehen sein. Schneller als 15 Stundenkilometer darf im öffentlichen Raum mit ihnen nicht gefahren werden. Sollte man sich bei einem Beschleunigungsmanöver also – rein theoretisch natürlich – in einen Geschwindigkeitsbereich jenseits von 30 Stundenkilometer verirren, so ist das völlig in Ordnung, vorausgesetzt, man befindet sich auf Privatgelände. Kaum jemand wird sich für ein auf sechs Stundenkilometer abgeriegeltes Crossbike erwärmen. Das wäre, als spannte man einen 400-PS-Porsche vor einen Pflug. Vernünftigerweise wird man das Zuggerät also versichern. Es wird von Stricker zu diesem Zweck mit TÜV-Zertifikat und Betriebserlaubnis angeboten.

Kraft satt, gut dosierbar

Stollenreifen des Crossbikes

Die Quelle der Kraft: Ein bärenstarker Motor verhilft dem Crossbike zu beeindruckender Fahrleistung. Fotos: Daniela Böhm

Um die vorhandene Leistung verkehrssicher dosieren zu können, verfügt das Bike über fünf Leistungsstufen, die sich per Handschalter mobilisieren lassen und auf dem Display angezeigt werden. In jeder dieser Stufen steht das volle Potenzial zur Verfügung, lediglich die Endgeschwindigkeit und die Beschleunigungskurve variieren. Wie sinnvoll diese Dosierungshilfe ist, stelle ich bei der Anfahrt auf einen frisch geschotterten, ansteigenden Waldweg fest. Stufe fünf steht noch auf dem Display und prompt räumt das durchdrehende Vorderrad den Schotter beiseite. Nach Zurückschalten auf Stufe 1 lässt sich der Vortrieb butterweich dosieren und das Hindernis wird bezwungen.

Sicher am Hang

Ich habe schon zahlreiche Zuggeräte erprobt und immer kam irgendwann der Moment, an dem die Physik siegte und an Steigungen entweder das Vorderrad durchdrehte oder die Motorleistung nicht mehr ausreichte. Vermutlich gibt es diesen Moment auch für das Crossbike, aber ich habe ihn nicht erlebt. Die Kombination aus Gewicht, grobstolligem Profil des Reifens und üppiger Motorleistung war allen Fahrsituationen gewachsen. Steigungen, die mich mit anderem Equipment zu Slalommanövern genötigt hatten, zog die Maschine stoisch hoch. Allenfalls kam es einmal vor, das am Ende vom Berg nur noch fünf Stundenkilometer auf dem Tacho standen – verschmerzbar. Wichtiger noch als das Bergauf-Erlebnis waren für mich aber Talfahrten, die ich mit anderen Gespannen schon als adrenalinfördernd erlebt hatte. Auch wenn eine Zugmaschine mit guten Bremsen bestückt ist, kommt es auf losem Untergrund vor, dass die Haftkraft des Reifens nicht mehr reicht und das Gefährt mit blockierendem Vorderrad talwärts schiebt. Das kann je nach Umgebung und Verkehrssituation ausgesprochen unangenehm werden. Nicht so mit dem Crossbike, dessen breiter Roller-Pneu sich bei jeder Bodenbeschaffenheit bewährte und in Kombination mit der doppelten Scheibenbremse sicher für kurze Bremswege sorgte. Freilich wurden Vollbremsungen von heftigem Schütteln begleitet. Das alles in allem relativ lange Gespann ist eben trotz der festen Klemmverbindung nicht vollständig verwindungsfrei. Als hilfreich beim Bergabfahren erwies sich der Rekuperationsmodus. Ein leichter Zug am rechten Bremshebel setzt eine Motorbremse in Kraft, die zum einen die Wirkung der beiden Scheibenbremsen unterstützt und zum anderen Energie in den Akku einspeist.

Überhaupt der Fahrkomfort: Es fordert seinen Preis, dass ein so vehement durch die Landschaft bewegter Rollstuhl ja „eigentlich“ für betulicheres Fortkommen konzipiert ist. Solches kann man natürlich auch mit dem Gespann zelebrieren. Aber in der Praxis nutzt man den vorhandenen Vortrieb doch eher für eine zügige Fahrt. Findet die dann auch noch auf holpriger Piste statt, bleibt kein Nierenstein an seinem Platz. Wer eine so kräftige Zugmaschine regelmäßig nutzt, ist deshalb sicher gut beraten, am Rollstuhl einen Satz Reifen zu verwenden, der für mehr Fahrkomfort sorgt als knallhart aufgepumpte Pneus in Rennradmanier.

Cockpit View Crossbike

Übersichtlich angeordnete Bedienelemente, übersichtliches Display: Nichts lenkt vom Fahrspaß ab.

Biest und Gentleman

Im Gegensatz zum opulenten optischen Auftritt fällt der akustische Eindruck ausgesprochen dezent aus. Der Motor verrichtet seine Arbeit flüsterleise und macht auch in ruhiger Umgebung, zum Beispiel Ladenpassagen oder sogar Kirchen (etwa beim Sightseeing im Urlaub) kaum auf sich aufmerksam. Unter beengten Verhältnissen wie dicht bevölkerten Fußgängerzonen fällt zudem positiv auf, wie präzise sich die Leistung des Motors in den niedrigen Fahrstufen dosieren lässt. In Kombination mit einem phänomenal engen Wendekreis und dem zuschaltbaren Rückwärtsgang macht das selbst zwischen Stühlen und Tischen einer Außengastronomie so beweglich, dass man zu keiner Zeit zur Gefahr für die Umwelt wird. Das ist überhaupt das Pfund, mit dem das Crossbike wuchern kann: Es ist ein Allrounder, der die Herausforderung im Gelände förmlich sucht, aber auch für den unspektakulären Einsatz in der Innenstadt taugt.

Universell einsetzbar

Unterstrichen wird diese Alltagstauglichkeit durch sinnvolle, teils allerdings aufpreispflichtige Ausstattungsdetails wie Beleuchtung, Tempomat, ausklappbare Blinker und Rückleuchten und eine Klickfix-Kupplung für Einkaufskorb oder Gepäckträger. Eine Reichweite von mehr als 30 Kilometern mit vollgetanktem Akku, die sich gegebenenfalls mit einem weiteren Stromspeicher verlängern lässt, dürfte für die meisten Unternehmungen ausreichen. Wie Stricker informiert, gibt es auch die Möglichkeit, von vornherein einen zweiten Akku zu montieren. Dann genügt ein einfaches Umschalten, um die Reichweite zu verdoppeln. In jedem Fall taugt das Crossbike auf Kurzstrecken als Alternative zum Auto. Wer eine universell einsetzbare Zugmaschine sucht, liegt mit dem Crossbike richtig. Ob in der Stadt, auf dem Land oder im Gelände – dieses Vorspannbike macht mobil. Dass nicht der Asphalt, sondern die Welt jenseits davon seine eigentliche Domäne ist, daraus macht das Fahrzeug keinen Hehl. Man erzielt einfach den maximalen Spaßfaktor, wenn man grobes Terrain, Bergwiesen oder Schotterpisten bezwingt. Mit Kraft und Gewicht macht das Crossbike Regionen zugänglich, die Rollstuhlnutzer sonst nur schwer erschließen. Dass es auch gehwegtauglich ist, kann, wer mag, als Extra betrachten, aber auch dort punktet es mit Eigenschaften wie sehr guter Wendigkeit und Biss noch an der heftigsten Steigung. Last but not least: Die brachiale Optik ist ein echter Hingucker. Wer mit dem Crossbike unterwegs ist, zieht Blicke auf sich.

Viel Bike für viel Geld

Allenfalls könnte das Komplettgewicht von rund 30 Kilogramm manchen Nutzer abschrecken. Es braucht ein gewisses Maß an körperlicher Fitness, um dem Kraftpaket in allen Situationen gewachsen zu sein, ohne sich und andere zu gefährden. Auch ist das Crossbike, genauer gesagt, sein Stromspeicher, nicht flugreisentauglich. Dazu ist die Energiedichte des Akkus zu hoch. Und der Spaß hat natürlich auch seinen Preis. Der beläuft sich, je nach Ausstattung, auf zwischen 6.000 und 7.000 Euro. Wer sich die Investition leisten kann und will, bekommt einen reellen Gegenwert.

~ wp


Wir danken Herrn Pohl herzlich für den tollen Praxisbericht. Ein Besuch auf der RehaTreff-Homepage lohnt sich, dort finden Sie jede Menge hilfreiche Informationen, Nachrichten und Interessantes aus der Reha-Szene. Klicken Sie hier, um weitere RehaTreff-Artikel zu lesen oder das aktuelle RehaTreff-Magazin zu bestellen. Kleiner Tipp: Ein Probeheft erhalten Sie einmalig kostenlos. 


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